Jeff Wall

Landscapes and Other Pictures

25. 5. — 25. 8. 1996

Infos

Zum ersten Male werden alle neun Landschaften, die der kanadi­sche Künstler Jeff Wall (Vancouver, 1946) seit 1980 geschaffen hat, im Rahmen einer Ausstel­lung präsen­tiert. Diese werden sieben weiteren Bildern gegen­über­ge­stellt, die fast alle jüngeren Datums sind. Darin unter­scheidet sich diese Präsen­ta­tion von anderen Ausstel­lungen, die Wall in den vergan­genen Jahren in deutschen Ausstel­lungs­häu­sern gehabt hat.

Das Thema der Ausstel­lung ist die Betrach­tung von Walls Landschafts­bil­dern auf dem Hinter­grund der Landschaft als kunst­his­to­ri­schem Genre und die Stellung und Funktion eben dieser innerhalb seines Gesamt­werkes. Zwischen den Landschaften, in welchen der Mensch seine Spuren hinter­lassen hat und den Bildern, in denen die mensch­liche Figur sich auf der ersten Ebene befindet, existiert ein innerer Zusammenhang.

Außer der Landschaft hat Wall auch andere bewährte maleri­sche Genres wie das Figuren­bild, das Histo­ri­en­bild, das Porträt, das Interieur und sogar das Still­leben neu belebt. Er hat sie nicht zuletzt dadurch aktua­li­siert, dass er diese im Kontext der modernen Kunst und der heutigen Gesell­schaft mit einem neuen Inhalt versieht. Dies verwirk­licht er nahezu wörtlich, schon indem er es versteht, – ohne Rücksicht auf das klassi­sche Medium der Ölfarbe auf Leinwand zu nehmen – seine Bilder als Leucht­platten mit cibachromen Dias zu konstru­ieren. Die Malerei mit ihrer farbigen Vergan­gen­heit wird so gegen das Licht der Fotografie gehalten. Damit erzielt er einen Verfrem­dungs­ef­fekt gegenüber der klassi­schen Malerei.

Die Großbild-Dias von Wall sind das Ergebnis von sorgfäl­tigen Insze­nie­rungen. Nichts wird dabei dem Zufall überlassen, und Menschen, Tiere und Gegen­stände bekommen eine von vornherein festge­legte Rolle zugewiesen. Ähnlich Poussin, der in seinem Atelier die Bilder die er malte, zuerst als Theater­szenen mit Figuren minutiös insze­nierte. Bei Wall nimmt die Suche nach dem richtigen Ort zumeist sehr viel Zeit in Anspruch, auch wenn es sich dabei um Plätze handelt, die er bereits seit Jahren kennt.

Seine Bilder erwecken nicht den Eindruck eines flüch­tigen Film-Stills, die einen Augen­blick einfrieren. Im Gegenteil, wegen der höchsten Konzen­tra­tion von Zeit und Raum erzielt er eine Dichte, die auch kennzeich­nend für das Medium der Malerei ist.

Selbst­ver­ständ­lich werden die Landschaften nicht von Wall insze­niert, weil sie ja bereits in Vancouver und Umgebung existent sind. Mit ihren Bauern­höfen, Pfaden, Reihen­häu­sern, Brücken, Bäumen, Fabriken, Bienen­körben, Wasser­graben und Super­märkten bilden sie Produkte von anonymen, kollek­tiven Insze­nie­rungen. Wenn darin Menschen vorkommen, dann sind diese so klein, dass sie kaum auffallen; wie in den flämi­schen Landschaften des sechzehnten Jahrhun­derts, in denen sich die bibli­schen Figuren kaum wieder­finden lassen. Die Landschaft des hoch indus­tria­li­sierten Zusam­men­le­bens lässt nur in weiten Fernen an eine pastorale Landschaft denken, wie etwa Claude Lorrain diese im goldenen Licht Italiens malte. Die Harmonie, wenn sie je bestanden hat, ist für immer dahin. Was übrig­bleibt, ist eine nostal­gi­sche Erinne­rung. Im Gegensatz dazu tragen die Landschaften von Wall die Spuren und Narben unserer indus­tri­ellen Periode.

Wall inter­es­siert sich wegen der Geschichte der mensch­li­chen Besie­de­lung für die Landschaft als Thema seiner Kunst wie auch für das maleri­sche Genre. Außer der Wahl der Landschaft, flach oder hügelig, sind es auch der Ausschnitt, der Standort der Kamera, die Entfer­nung, die Kompo­si­tion, das Vorhanden- oder Nicht­vor­han­den­sein von Perspek­tiven und last but not least die Anwendung von Licht und Farbe, die durch den Künstler variiert werden. Fast die Hälfte seiner Landschaften sind von einem extremen Querformat: sehr niedrig und sehr breit. Andere Werke verfügen über Abmes­sungen, die für dieses Genre als gängiger anzusehen sind. Manchmal liegt der Horizont hoch, dann wieder niedrig. In „The Old Prison“, 1987 wurde eine Vogel­per­spek­tive angewandt. Es gibt Landschaften, in denen die Linien von Pfaden, Wegen oder Baumreihen die Perspek­tive betonen. In unserer Ausstel­lung sind Landschaften mit Tieren („Steve Farm, Steveston“, 1980), eine Fluss­an­sicht („The Bridge“, 1980) und eine Bergland­schaft („Coastal Motifs“, 1989) zu sehen, die wie eine Fanta­sie­land­schaft von Pieter Breughel d. Ä. anmutet, der sich ebenfalls auf die Wahrneh­mung der Wirklich­keit stützte, wie z. B. die Alpen, die er auf seinem Weg nach Italien überquerte. Die Titel der Arbeiten Jeff Walls ähneln denen hollän­di­scher Landschaften aus dem siebzehnten Jahrhun­dert: „The Crooket Path“ (Der sich schlän­gelnde Pfad), „The Bridge“ (Die Brücke), „The Old Prison“ (Das alte Gefängnis). Klassi­scher geht es fast nicht mehr.

Obwohl Wall nicht viele Landschafts­bilder gemacht hat, ergrün­dete er dieses Genre dennoch gründlich. Das Leitmotiv schlechthin ist die Darstel­lung des mensch­li­chen Körpers in einer umfas­senden Variation von Haltungen, Gesten und Expres­sionen. In dieser Hinsicht bildet „A Hunting Scene“, 1994, einen Übergang zu den reinen Figuren­bil­dern. Ein Stadtrand mit einem Streifen Natur zwischen einem Parkplatz und Häusern, bildet den Hinter­grund für eine moderne Jagdszene. Die Betonung liegt hier bereits deutlich und mit ein klein wenig Ironie auf der drama­ti­schen Handlung. Dies gilt noch stärker für „Resto­ra­tion“, 1993, einem Panorama einer immensen winter­li­chen Bergland­schaft mit einer Armee auf der Flucht, welches von einer Gruppe junger Restau­ra­toren wieder­her­ge­stellt wird. Diese Arbeit ist doppel­bödig: eine von Jeff Wall insze­nierte Figuren­gruppe agiert vor dem Landschafts­bild eines Panoramas.

Die „Landschaft“ von „Untang­ling“, 1994, dagegen bildet den Hinter­grund für ein als Malerei fotogra­fiertes mensch­li­ches Drama. In einem Warenhaus für Apparate, Motoren, Land- und Garten­bau­ge­räte, Schläuche und Taue sitzt im Vorder­grund ein Mann, der ganz in die Beschäf­ti­gung versunken ist, eine Rolle verschie­den­far­biger Seile, welche wie ein gordi­scher Knoten aussehen, zu entwirren. Im Hinter­grund ist ein Mann dabei, in einem Regal etwas zu suchen. Die Neonbe­leuch­tung verleiht dem Interieur einen starken Hell-Dunkel-Effekt wie in einem Bild von Caravaggio.

Sowohl die städti­sche „Landschaft“, welche etwa von einer Mauer begrenzt ist, als auch das Exterieur der Landschaft, welche wegen des weiten Horizontes und des schier unend­li­chen Himmels als unbegrenzt erscheint, bilden drama­ti­sche Hinter­gründe der „condition humaine“. So ist es dann auch die mensch­liche Figur, die Landschaft und Figuren­bild mitein­ander verbindet, im einen Fall der Betrachter des Bildes, im anderen der Akteur.

Trotz der kunst­his­to­ri­schen und theore­ti­schen Erwägungen, die der Arbeit von Jeff Wall zugrunde liegen und abgesehen von der durch­dachten und gründ­li­chen Arbeits­weise, mit welcher er seine Bilder herstellt, hinter­lassen sie doch dank der Intel­li­genz, der Erfin­dungs­gabe, dem strengen und monumen­talen Bildaufbau, der Kraft der Dramatik, der Deutlich­keit der Symbol­sprache und dem im Wahrsten Sinn strah­lenden Charakter der Vorstel­lungen einen ganz direkten und starken Eindruck. Als Quellen der Schönheit, die aus der indus­tri­ellen modernen westli­chen Gesell­schaft destil­liert worden sind, stellen sie ein reines Vergnügen für den Betrachter dar. Auch wegen des mensch­li­chen Maßes, welches darin trotz aller Verun­stal­tungen durch das Leben bewahrt bleibt.

Katalog:
Jeff Wall. Lands­capes and Other Pictures
Texte von Jeff Wall und Camiel van Winkel (dt./engl.)
22 x 27,5 cm, 88 S., 6 s/w und 27 farbige Abb.
Cantz Verlag, Ostfil­dern 1996
ISBN 3–89322-855–1
vergriffen