Paul Graham

Empty Heaven. Fotografien aus Japan 1989-1995

19. 8. — 12. 11. 1995

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Paul Graham wurde 1956 in Harlow, England, geboren, lebt in London und gilt seit Jahren als der Star der neuen briti­schen Fotografie. Siene Arbeiten lassen soziales Interesse und politi­sches Engage­ment spüren, um das nicht erst, seit dem Begriff “political correct­ness” in der Kunst­szene eine immer größere Rolle spielt.

In der Bildfolge ‘Beyond Caring’ nimmt Paul Graham 1984/85 das englische Sozial­system unter die Lupe. Mitte der 80er Jahre fotogra­fierte er den eskalie­renden Konflikt in Irland, das Ergebnis nannte er ‘Troubled Land’. Zwischen 1988 und 1992 reiste Graham durch neun westeu­ro­päi­sche Länder – einschließ­lich das gerade wieder­ver­ei­nigte Deutsch­land – dabei entstand seine Bilder-Serie ‘New Europe’, mit der 1993 das Fotomu­seum in Winter­thur eröffnet wurde. 1994 versuchte er den Waffen­still­stand in Irland darzu­stellen; großfor­ma­tige Farbfo­to­gra­fien zeigen den grauen Himmel über den nordiri­schen Städten.

Paul Graham ist ein sehr subtiler Beobachter; obwohl seine Aufnahmen wie Schnapp­schüsse wirken, erfasst er oft intuitiv das Lebens­ge­fühl der einer ganzen Genera­tion, einer Gesell­schaft oder einer Nation. Die Fotos ergeben nie eine komplette Reportage, sie sind keine geschlos­sene Auswahl; sie sind ein Fragment, eine Anein­an­der­rei­hung von Ausschnitten und bildli­chen Metaphern, die das Unsicht­bare sichtbar machen wollen: Krieg, Rezession, Arbeits­lo­sig­keit, Konsum, Freund­schaft; Unter­gangs­ge­fühl und Aufbruch­stim­mung am Ende unseres Jahrhunderts.

‘Empty Heaven’ – Fotogra­fien aus Japan 1989–1995 ist Paul Grahams erste Museums­aus­stel­lung in Deutsch­land. Die Werkgruppe, bestehend aus 55 farbigen Fotogra­fien, zeigt Bilder, die er in den letzten sieben Jahren auf zahlrei­chen Riesen in das “Land der aufge­henden Sonne” machte. Paul Graham hat sich intensiv mit den sozio-kultu­rellen Struk­turen und der Geschichte dieses Landes auseinandergesetzt.

1941 erklärte Japan mit dem Angriff auf Pearl Harbour den Verei­nigten Staaten und England den Krieg und trat damit in den Zweiten Weltkrieg ein. Nach dem Abwurf von zwei ameri­ka­ni­schen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki Anfang August 1945, endete am 15. August 1945 das Streben der Japaner nach einer Vormacht­stel­lung in Asien mit der bedin­gungs­losen Kapitu­la­tion. Fünfzig Jahre später macht sich Paul Graham daran, mit seinen Fotogra­fien das schein­bare nationale Vergessen aufzu­bre­chen. Er versucht zu dem Punkt vorzu­dringen, an dem die mühsam verdrängten Erinne­rungen an die leidvolle Vergan­gen­heit mit der hekti­schen, aber völlig diszi­pli­nierten Betrieb­sam­keit der modernen Wirtschafts­macht Japan kollidieren.

Paul Grahams Motive haben wenig gemeinsam mit der klischee­haften Vorstel­lung vom Leben in Japan. Die meisten Bilder sind Nahauf­nahmen, sie sind nicht mit dem Weitwin­kel­ob­jektiv des klassi­schen Fotojour­na­lismus, aber alle mit direktem Blitz fotogra­fiert. Ihnen wohnt eine extreme Klaus­tro­phobie inne, eine unaus­weich­liche Konfron­ta­tion mit dem Trauma­ti­schen und mit dem Trivialen.

Die Gesichter der Angestellten des Tokioter Banken­vier­tels, die kunstvoll frisierten Locken einzelner Teenager in der U‑Bahn und die Porträts junger japani­scher Frauen; ihnen stellt Paul Graham das Grauen der Atombombe gegenüber: Ausschnitte aus histo­ri­schen Fotogra­fien, Fetzen von radio­aktiv verstrahlter Haut in Gefäßen mit Formalin konser­viert, verbrannte Körper­teile. Daneben bildet er immer wieder die betont fröhliche Welt des Alltags ab: künst­liche Blumen, Kuschel­tiere im Badezimmer, Geschenk­pa­pier in extrem bunten Farben, kolorierter Zucker in einer aufwendig bemalten Zucker­dose und das strah­lende Wandge­mälde der aufge­henden Sonne. Und überall der Eindruck der totalen Kontrolle von persön­li­cher Freiheit: eine massive Tür aus Stahl, der verschlun­gene Wurzel­ballen einer Pfalnze, in einem zu kleinen Glas am Wachstum gehindert, mit Stoff umwickelte Bäume; selbst das Sonnen­symbol, die runde Scheibe, wurde zur Zierde eines Brücken­pfei­lers in Beton gegossen.

Als Ganzes gesehen, bilden die scheinbar zusam­men­hang­losen Sujets eine Einheit, das Triviale wirkt auf einmal schockie­rend, das Schockie­rende alltäg­lich. Fragen über Japan und Fragen über uns alle stellen sich dem Betrachter. Müssen wir die Bürden unserer Geschichte tragen oder sollen wir uns vor ihnen verwahren? Was soll verheim­licht, was neu geschrieben, was geschönt und was vergessen werden? Welchen Preis müssen wir zahlen, um die Ordnung in unserer Gesell­schaft aufrecht zu halten?