Gesammelte Werke I. Zeitgenössische Kunst seit 1968

17. 7. — 3. 10. 1999

Infos

Anläss­lich seines fünfjäh­rigen Bestehens präsen­tiert das Kunst­mu­seum Wolfsburg erstmals nahezu alle Arbeiten seiner umfas­senden Sammlung zeitge­nös­si­scher Kunst sowie Neuerwer­bungen des Jahres 1999.

Noch vor Eröffnung des Museums wurde 1992 die Bipola­rität von Sammlung und Ausstel­lung als zentraler Aspekt der Museums­kon­zep­tion festge­schrieben. Neben der Organi­sa­tion einer Vielzahl von Ausstel­lungen stellte das Kunst­mu­seum das Wachsen seiner Sammlung regel­mäßig in der Ausstel­lungs­reihe Tuning Up #1–5 vor. Das Profil der Sammlung zielt dabei nicht auf Vollstän­dig­keit, sondern auf das Hervor­heben markanter künst­le­ri­scher Positionen. Der zeitliche Beginn der Sammlung wird durch Minimal Art, Concept Art und Arte Povera markiert. Bis in die jüngste Gegen­warts­kunst hinein erfolgte eine Konzen­tra­tion auf Werkgruppen, die im Gegensatz zu Einzel­werken einen ausführ­li­cheren Einblick in die von den jewei­ligen Künstlern vertre­tenen Haltungen geben.

Die Ausstel­lung der „Gesam­melten Werke I“ beginnt in der Großen Halle des Museums mit Bruce Naumans raumgrei­fender Video­in­stal­la­tion „Falls, Pratfalls and Sleights of Hand“ aus dem Jahr 1993. In dem aus fünf großen Video­pro­jek­tionen bestehenden Ensemble bearbeitet Nauman das Thema Körper­er­fah­rung und stellt kinema­to­gra­fi­sche Experi­mente zu Repeti­tion, Zirku­la­rität und zeitli­cher Verlang­sa­mung der Bilder an. Ebenso sind Video­ar­beiten Naumans aus den Jahren 1968 und 1969 zu sehen, die sich bereits mit ähnlichen Frage­stel­lungen befassten und welche zusammen mit der „Skulptur 10 Heads Circle (In and Out)“ (1990) sowie dem Mappen­werk „Frankfurt Portfolio“ (1990) einen reprä­sen­ta­tiven Einblick in das Werk des Künstlers geben.

Von Nam June Paik wird die Arbeit „Egg Grows No. 4“ (1984) zu sehen sein, in welcher sich der Künstler ironisch dem Thema der Evolution und des Wachstums annähert. Ein Ei wird von einer Kamera gefilmt und auf acht in ihrer Größe zuneh­mende Monitore übertragen. So wird der Eindruck eines wachsenden Eis, welches sich schließ­lich zu teilen scheint, erzeugt.

Allan McCollums Instal­la­tion „Over 10.000 Indivi­dual Works“ (1987–89) unter­sucht mit ihren über zehntau­send techno­iden, auf Massen­pro­duk­tion verwei­senden Einzel­ob­jekten das Verhältnis von Indivi­dua­lität und Masse. James Welling, dessen Wolfsburg-Serie (1994) zusammen mit McCollums Arbeit gezeigt wird, befasst sich in seinen Fotogra­fien mit Fragen der Produk­tion und der Historie der Produk­ti­ons­stätte Wolfsburg.

Im Zentrum der großen Halle präsen­tiert das Kunst­mu­seum Werke und Werkgruppen von Carl Andre, Jan Dibbets, Stanley Brouwn und Jannis Kounellis und spannt damit einen Bogen von den 70er-Jahren bis zur Gegenwart. Positionen der Minimal und Concept Art werden mit zeitge­nös­si­schen minima­lis­ti­schen Ansätzen kontrastiert.

Die „Großen Geister“ von Thomas Schütte weisen den Weg zu Fotoar­beiten von Cindy Sherman, Jeff Wall und Andreas Gursky. Die insze­nierte Fotografie Shermans wird anhand von den „Untitled Film Stills“, den „Disgust“ und den „Sex Pictures“ exempli­fi­ziert. Andreas Gursky ist unter anderem mit „Bundestag“ (1998) vertreten, einer Arbeit, die aufgrund der Unbestimm­bar­keit des darge­stellten Raumes, seiner Schichten und Spiege­lungen den Betrachter herausfordert.

Das Bilder­zimmer Georg Herolds wurde erstmals 1995 im Kunst­mu­seum ausge­stellt und speziell für die damalige Ausstel­lung des Künstlers „XTOONE“ konzi­piert. Das Ensemble vereinigt Arbeiten, die in den Jahren 1988 bis 1995 entstanden sind und in der Regel am Beginn von ‚Versuchs­reihen‘ des Künstlers standen. Es finden sich Beispiele für Ziegel­stein-Bilder, Collagen aus Plastik­tüten, vier Kaviar­bilder und zwei Multiple-Vitrinen, die den tradi­tio­nellen Kunst­be­griff infrage stellen und den Betrachter syste­ma­tisch verunsichern.

René Daniëls und Elizabeth Peyton, deren Werk im Kunst­mu­seum 1998 in Einzel­aus­stel­lungen zu sehen war, sind mit Werkgruppen vertreten. Während Daniëls mit seiner Malerei einen wichtigen Stand­punkt der Malerei in den 80er-Jahren reprä­sen­tiert, und in seinen Bildern Elemente von Jugend­kultur und Punk mit Bildpoesie und intel­lek­tu­ellem Sprach­witz verband, entdeckt die junge ameri­ka­ni­sche Malerin am Ende des zwanzigsten Jahrhun­derts tradi­tio­nelle künst­le­ri­sche Ausdrucks­weisen wieder und füllt diese mit persön­li­chen, zeitge­mäßen Inhalten.

Der nächste Bereich der Ausstel­lung zeigt mit Douglas Gordon, Gary Hume, Richard Billingham und Damien Hirst einige Haupt­ver­treter der Young British Art. Von Gordon wird die Video­in­stal­la­tion „24 Hour Psycho“ (1993) zu sehen sein, in welcher der Künstler ausgehend von Hitch­cocks Filmklas­siker aufzeigt, wie fragil die Illusion der Echtzeit im Film wirklich ist. Von Gary Hume zeigen wir nur einen Teil der von uns erwor­benen Lackbilder, da sich die übrigen als Leihgaben im Briti­schen Pavillon der Biennale di Venezia befinden.

Von Richard Billingham folgt eine Serie seiner dokumen­ta­risch anmutenden Famili­en­por­träts und Interi­eurs, die in schonungs­loser Offenheit die Tristesse der Lebens­um­stände seiner Familie darlegen. Die britische Sequenz wird durch „A Hundred Years“ (1990) von Damien Hirst abgeschlossen. Der Glaskörper und seine Auftei­lung erinnern an einen Versuchs­aufbau, in welchem Fliegen unter­schied­li­chen Lebens­be­din­gungen ausge­setzt sind und in den zwei Hälften des Gehäuses Nahrung, Schutz oder den Tod finden.

Panama­renkos poetische Arbeit „Flugzeug“ aus dem Jahr 1967 steht für das Interesse des Künstlers an techni­schen Zusam­men­hängen, an Konstruk­tion und an den Möglich­keiten, die die Technik dem Menschen offeriert.

Peter Fischli und David Weiss sind mit jener unbeti­telten Video­in­stal­la­tion vertreten, die das Künst­lerduo 1995 auf der Biennale di Venezia im Schweizer Pavillon präsen­tiert hat. Auf zwölf Monitoren sind etwa 96 Stunden unter­schied­lichsten Filmma­te­rials zu sehen, welches – mit einer Handka­mera aufge­nommen – all das zeigt, was man den Künstlern zufolge macht, „wenn man keine Kunst macht.“

Die kürzlich erworbene Raumin­stal­la­tion „Mensch­lich“ des franzö­si­schen Künstlers Christian Boltanski war im vergan­genen Jahr im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris zu sehen. Die Arbeit vereinigt jene 1300 Porträt­fo­to­gra­fien, die der Künstler zwischen 1971 und 1994 in seinen Instal­la­tionen verwendet hat. Aus Klassen­fotos heraus­ver­grö­ßerte Porträts von Schülern eines jüdischen Gymna­siums in Wien aus dem Jahr 1931, aus Fotos einer spani­schen Krimi­nal­zeit­schrift sowie aus einem gefun­denen Fotoalbum hat Boltanski ein eindring­li­ches Werk des Erinnerns geschaffen, in welchem Täter und Opfer kaum mehr zu unter­scheiden sind.

Der Rundgang setzt sich mit Werken und Instal­la­tionen von Gilbert & George fort. Darunter „The Tuileries“ (1971), eine Salon­ein­rich­tung aus Sesseln, Tisch und Wandzeich­nungen sowie den fotogra­fi­schen Werken „The Major’s Port“ (1972), „Fuck“ (1977) und „Roads“ (1991).

Tony Craggs alchi­mis­ti­sches Ensemble „Formi­ni­fera“ (1991) verweist in seiner biomor­phen Formen­sprache bereits auf die Werkgruppe Mario Merz‘, dessen Iglus und Tische schon als Ikonen der Arte Povera gelten können.

In der Fotoga­lerie des Kunst­mu­seums werden komplexe Werkgruppen Nobuyoshi Arakis, die „Tokyo Novelle“ (1995), und Fotoar­beiten Paul Grahams aus der Serie „Empty Heaven“ gezeigt.

Zur Ausstel­lung erscheint ein vom Kustos der Sammlung, Holger Broeker, bearbei­teter Katalog in dem alle Werke der Sammlung farbig abgebildet und ausführ­lich beschrieben sind:
Kunst­mu­seum Wolfsburg. Gesam­melte Werke 1. Zeitge­nös­si­sche Kunst seit 1968
25 x 28 cm, 449 S., 344 s/w und 229 farbige Abb.
Hatje Cantz Verlag, Ostfil­dern 1999
ISBN 3–89322-870–5